
Wir wollen Risiken der Lieferketten besser abschätzen können
Ein Gespräch mit Alexander Schmidl, der Big Data Analysen für das Underwriting von Betriebsunterbrechungs- und Rückwirkungsrisiken einsetzt.
Herr Schmidl, Sie leiten eines von fünf Pilotprojekten, mit denen Munich Re herausfinden will, wie die Nutzung von Big Data Risikoprüfung und Pricing optimieren kann. Erzählen Sie uns mehr.
Unser „Supply Chain Case“ befasst sich mit der Analyse von Lieferketten und will die Wechsel- und Rückwirkungen bei globalen Industrien besser erfassen. Gerade bei Hightech-Unternehmen, etwa Elektronikfirmen, findet die Komponentenherstellung meist nicht mehr in eigenen Betrieben statt, sondern ist fast völlig an Fremdhersteller ausgelagert. Obwohl die Unternehmen seit den Erdbeben- und Flutereignissen in Japan bzw. Thailand 2011 verstärkt darauf achten, ihre Lieferketten transparenter zu machen, reichen die Informationen, die wir für die Risikoprüfung erhalten, zumeist leider nicht aus, um die Auswirkungen von Lieferkettenstörungen bei Betriebsunterbrechungsrisiken adäquat zu bewerten.
Liegen diese Informationen nicht den Versicherungsnehmern vor?
Tatsächlich ist es so, dass viele Informationen, die uns bei einer Risikoanalyse helfen, den Versicherungsnehmern selbst oft fehlen. Oder es stehen andere Gründe, wie beispielsweise Vertraulichkeitsvereinbarungen über Patente einer Weitergabe im Weg. Diese Lücken wollen wir mithilfe von Big Data bestmöglich schließen.
Wie gehen Sie dabei vor?
Dazu wollen wir auch Informationen nutzen, die im Internet bereits frei verfügbar, aber unstrukturiert vorliegen. Dazu gehören etwa die exakte geographische Lage sowie Informationen über Zulieferunternehmen, ihre kritischen Produkte und internationalen Geschäftspartner, die aus Internetveröffentlichungen oder Unternehmensnachrichten hervorgehen. Die Kunst ist, die relevanten aufzuspüren, sie unter die Lupe nehmen und mit unseren intern erhobenen Daten zusammenzuführen.
Testszenarien sollen mehr Transparenz über Betriebsunterbrechungsrisiken schaffen. Wie schaut ein solches Szenario aus?
Unser Testszenario will die Lieferketten von Hightech-Elektronikindustrierisiken, z.B. bei Smartphone-Herstellern transparenter machen. Hier bestehen häufig extreme Abhängigkeiten: Oft stellt nur ein Unternehmen ein spezielles Bauteil her, dass es an mehrere „Original Equipment Manufacturer" (OEMs) liefert. Wenn beim Zulieferer eine Lieferunterbrechung auftritt, aus welchem Grund auch immer, könnte die Produktion verschiedener OEMs betroffen sein. Unser Ziel ist also, solch kritische Produkte und Zulieferer zu identifizieren und Abhängigkeiten zu erkennen. Wenn wir diese Netzwerke besser durchschauen, wissen wir im Idealfall am Ende, wie hoch die Betriebsunterbrechungsrisiken unserer jeweiligen Versicherungsnehmer sein können.
Eine technische Herausforderung.
Ja, um diese riesigen Datenmengen zu durchforsten, setzen wir unter anderem Webcrawler ein, also nach speziellen Begriffen programmierte Suchprogramme, sowie Wissensmodelle, die unser IT-Dienstleister für uns erstellt. Sie sollen sich im Lauf der Zeit selbst optimieren, indem die zugrunde liegenden Begriffe, die Metadaten immer genauer und umfassender werden. Die Ergebnisse müssen selbstverständlich nochmals im Einzelnen auf ihre Plausibilität geprüft werden.
Wann rechnen Sie mit den ersten Ergebnissen?
Die Projekte laufen bis ins zweite Quartal 2015, also ein gutes Jahr gerechnet vom ersten fachübergreifenden Kick-off und inklusive Findungsphase. Im Grunde handelt es sich um eine Machbarkeitsstudie: Zunächst müssen wir sehen, was sich tatsächlich erreichen lässt bzw. welche Lösungen langfristig implementierbar wären. Selbstverständlich muss auch das Aufwand-Nutzen-Verhältnis passen. Wenn sich herausstellt, dass ein Szenario nicht oder nur unwirtschaftlich funktioniert, wird es verworfen und durch einen anderen Fall ersetzt.
Welche anderen Industrien könnte man auf ähnliche Weise analysieren?
Auch bei Cloud-Services/Provider besteht ein großes Kumulrisiko, wenn ein Anbieter ausfällt oder gehackt wird. Diese Abhängigkeiten müssen wir beim Riskassessment besser durchschauen. Das dritte Stream-Szenario bezieht sich auf die Öl- und Gasindustrie sowie die Pharmabranche. Bei diesen spezialisierten Industrien hat man oft nicht das volle Bild über wichtige Lieferströme und ihre Werte. Hier könnte uns ebenfalls die Analyse der im Internet verfügbaren Daten weiterhelfen.
Mit welchem geschäftlichen Mehrwert rechnen Sie, wenn alles wie geplant läuft?
Bei einer erfolgreichen Umsetzung aller vier Szenarien – wenn sich also Risikoselektion, Beteiligungssteuerung und Pricing im fakultativen und Vertragsgeschäft sowie die Akkumulationskontrolle im Vertragsgeschäft durch big-data-gestützes Underwriting tatsächlich vollumfänglich verbessern lassen und wir auch Schäden aus unprofitablem Geschäft vermeiden, könnte sich ein geschätztes umsatzäquivalentes Potenzial von einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag erschließen lassen.
Wie profitieren unsere Kunden von diesen Aktivitäten?
Wir werden die Erkenntnisse unserer Analysen mit unseren Kunden teilen. Je besser die Datenlage, desto genauer kann unsere – und ihre – Risikoeinschätzung sein und damit auch das Pricing. Wir können die komplexen Risiken besser verstehen und individuelle, kundenspezifische Lösungen anbieten ein klarer Wettbewerbsvorteil für unsere Kunden und für uns.
