Stürme

Schwergewitter über Deutschland

Tornados treten in Deutschland häufiger auf als gemeinhin angenommen, bleiben aber meist ohne größere Schäden. 2015 allerdings erreichten zwei Stürme eine Stärke, der sogar solides Mauerwerk nicht mehr standhalten konnte.

09.06.2016

In den Frühlings- und Sommermonaten ist Deutschland oftmals dem Zustrom feuchtwarmer Luftmassen aus Südwesten ausgesetzt. Treffen diese auf kältere Luft aus dem Norden, kommt bei entsprechenden Windscherungsverhältnissen ein sich selbst verstärkender Konvektionsprozess in Gang. Die feuchtwarme Luft steigt in kältere Schichten auf und kondensiert. Die dabei frei werdende Energie treibt die feuchtwarme Luft weiter in die Höhe, sodass sich Gewitterwolken bilden. Wird entsprechend viel Energie in der Atmosphäre freigesetzt, entstehen Schwergewitter, im meteorologischen Jargon auch schwere konvektive Stürme genannt. In ihrer extremen Ausbildung, den Superzellen, tritt neben Blitzschlag, Hagel, Starkregen und heftigen Windböen ein besonderes Phänomen auf: Tornados.

Auch Europa betroffen

Tornados verbindet man geografisch üblicherweise mit dem mittleren Westen der USA, wo sie gehäuft in der berüchtigten Tornado Alley wüten. Sie erstreckt sich in etwa parallel zum Nord-Süd-Verlauf der Rocky Mountains von Texas über Oklahoma nach Kansas und Nebraska bis South Dakota und Iowa. Insgesamt zählt man in den USA im Mittel 1.300 bis 1.400 solcher Windhosen pro Jahr. Auch in Deutschland sind Tornados ein Phänomen, das laut Deutschem Wetterdienst mit 20 bis 60 Ereignissen pro Jahr häufiger auftritt, als man allgemein glaubt. In ganz Europa werden gemäß der European Severe Weather Database (ESWD) 300 bis 400 gesicherte Tornados pro Jahr gezählt. Berücksichtigt man, dass die für Tornados typische Region in den USA fast 20-mal die Fläche von Deutschland einnimmt, kommt man für beide Länder in die Nähe einer ähnlich hohen Häufigkeit pro Flächeneinheit.

Allerdings erreichen die meisten dieser lokalen Wirbelstürme in Deutschland nicht die zerstörerische Kraft, um bei hiesigen Baustandards Verwüstungen zu hinterlassen, wie man sie aus den USA kennt. Viele dieser Stürme finden auch nur über unbebauten Gebieten wie Feldern oder Wäldern statt.
Erfahren Sie in den Topics Online der Munich Re alles über Tornados & Wirbelstürme in Deutschland sowie über die Schäden, die sie verursachen. Jetzt lesen. © dpa Picture Alliance / Jens Büttner
Tornado am 5. Mai 2015
Eine Außenwand sowie das Dach des Gebäudes in der Altstadt von Bützow (Mecklenburg-Vorpommern), Deutschland, wurde durch den Tornado am 5. Mai 2015 weggerissen.

Serie von Tornados im Mai

2015 jedoch haben mindestens zwei Tornados eine Stärke erreicht, der sogar solide Steinmauern nicht mehr standhalten konnten. Einer davon ereignete sich in einer Serie von mindestens fünf Tornados am Abend des 5. Mai in Bützow nahe Rostock in Mecklenburg-Vorpommern.

Mit heftigen Folgen: Zwei Todesopfer, 30 Verletzte durch umherfliegende Trümmerteile, 16 zerstörte Häuser, mehr als 100 beschädigte Autos und Schäden über 30 Millionen Euro waren zu beklagen. Am 13. Mai kam es in Süddeutschland zu mindestens drei Tornados, einer im Kreis Waldshut im Südschwarzwald, einer in der Nähe von Konstanz in Baden-Württemberg und ein dritter im bayerischen Affing bei Augsburg. Dieser schlug eine Schneise von über 16 Kilometer Länge und etwa 150 Meter Breite. Neun Verletzte, ca. 230 beschädigte und teils zerstörte Häuser sowie vermutlich an die 50 Millionen Euro Schäden waren die Bilanz des Ereignisses. Den beiden stärksten dieser Tornados in Bützow und Affing werden Windgeschwindigkeiten von gut 250 km/h) zugeschrieben. Auf der auf Windgeschwindigkeiten basierten Fujita-Skala oder F-Skala (entwickelt 1971 von T. Theodore Fujita) entspricht das der Klassifizierung F3. 

Es ist jedoch nicht unproblematisch, Tornados in derartige Kategorien einzustufen, weil sich die tatsächlichen Windgeschwindigkeiten nur selten exakt messen lassen. Dazu müsste direkt vor Ort oder zumindest in der Nähe des Sturms ein sogenanntes Dual-Polarisations-Radar platziert sein. Dieses spezielle Doppler-Radar ist in der Lage, die Geschwindigkeit der im Tornado-Wirbel zirkulierenden Regentropfen, Eis- und Staubteilchen mittels Reflexion von polarisierten Mikrowellen zu bestimmen.

Professionelle „Storm Chaser“ in den USA, nicht selten vom dortigen Wetter-Fernsehen finanziert, sind mit diesen modernen und sehr teuren mobilen Gerätschaften (Doppler-On-Wheels, kurz DOW) ausgestattet und jagen während der Schwergewittersaison den tornadoträchtigen Superzellen hinterher. Die Ausbeute ist trotzdem recht mager: Von den weit über 1.000 Tornados pro Jahr in den USA können nur etwa 20 bis 30 auf diese Weise analysiert werden.

Enhanced Fujita Skala in den USA

Erfahren Sie in den Topics Online der Munich Re alles über Tornados & Wirbelstürme in Deutschland sowie über die Schäden, die sie verursachen. Jetzt lesen. © Storm Prediction Center, NOAA
Fujita-Skalea und Enhanced-Fujita-Skala
Storm Chaser in Europa sind für gewöhnlich deutlich schlechter ausgestattet. Es käme einem Glücksfall gleich, wenn sich bei einem Tornado ein mobiles Doppler-Radar vor Ort befände. Die Einordnung der Sturmstärke nach der F-Skala ist daher einer erheblichen Ungenauigkeit bzw. Beliebigkeit unterworfen und kann in den meisten Fällen nur über Schadeninformationen vorgenommen werden, die auf bestimmte Windgeschwindigkeiten schließen lassen.

Hier setzt die erweiterte oder Enhanced Fujita Skala (auch EF-Skala) an, nach der die Stürme in den USA seit 2007 eingestuft werden. Sie beruht auf einer Formel, die 28 Schadenindikatoren an Bausubstanz und Vegetation bewertet und so indirekt Rückschlüsse auf die Windgeschwindigkeit ermöglicht. Erfahrungen aus dem Bauingenieurwesen haben gezeigt, dass bestimmte Schadenbilder bereits bei geringeren Windgeschwindigkeiten auftreten als in der F-Skala angenommen.

Gerade im Extrembereich (ab EF3) treten hohe Diskrepanzen zwischen den beiden Skalen auf (siehe Seite 26). Diese Diskrepanzen gelten jedoch nur für die USA, in Europa wird weiterhin die F-Skala verwendet. Es ist klar, dass die auf Bausubstanzschäden basierten Faktoren stark davon abhängen, welche Baustandards vor Ort herrschen und welche Baumaterialien Verwendung fanden. So zeigt das in Deutschland gängige Mauerwerk im Hausbau eine andere Anfälligkeit gegenüber den zerstörerischen Kräften eines Tornados als die in den USA übliche Holzbauweise. 

Wollte man die EF-Skala auf Deutschland oder Mitteleuropa übertragen, müssten all jene der 28 Parameter rekalibriert oder neu definiert werden, die sich auf die Bausubstanz beziehen. Es gibt inzwischen auch Vorschläge, Tornados nicht rein nach Windgeschwindigkeiten einzustufen, sondern nach schadenrelevanteren Größen wie beispielsweise kinetische Energie und Stoßkraft. Neben Ingenieuren beschäftigen sich auch Wissenschaftler mit dem Thema. Ein finaler Konsens lässt jedoch noch auf sich warten.

Reiner Tornado-Schaden schwierig zu bestimmen

Ein weiteres Problem in der Klassifizierung von Tornados besteht darin, dass sie fast immer zusammen mit anderen schadenträchtigen Ausprägungen wie schwerem Hagel oder orkanartigen Böen auftreten. Daher ist es in den meisten Fällen nicht möglich, den reinen Tornado-Schadenanteil zu separieren. Als Faustregel gilt: Je stärker das Tornado-Ereignis, umso größer ist sein Anteil am gesamten Schwergewitterschaden.

Die teuersten Tornado-Schäden in den USA stammen von zwei Superzellen-Ausbrüchen im Frühjahr 2011. Damals bildeten sich jeweils mehrere Hundert Tornados, darunter viele der Kategorie EF4 und sogar EF5. Beide Ereignisse haben zusammen mit Hagel und Sturzfluten Gesamtschäden in Höhe von mehr als 21 Milliarden US-Dollar hinterlassen, wovon gut 14 Milliarden versichert waren. Trotz verbesserter Vorwarnung verloren 528 Menschen ihr Leben.

In Deutschland trat der schwerste Tornado-Schaden 1968 in Pforzheim auf. Binnen drei Minuten beschädigte der F4-Wirbelsturm etwa 2.300 Häuser und zerstörte hunderte Autos. Es gab über 200 Verletzte und drei Tote. Der Sachschaden wurde auf 125 Millionen D-Mark geschätzt, was in heutigen Werten gerechnet durchaus in die Dimension eines Milliardenschadens reichen könnte. Auch wenn ein Tornado der Stärke F3 oder höher in Deutschland im Mittel nur alle zwei Jahre auftritt (in den USA werden jährlich etwa 30 derartige Ereignisse registriert), so ist aufgrund der dichteren Bebauung (verglichen mit den USA) das Potenzial für Schäden durchaus als hoch einzustufen.
Erfahren Sie in den Topics Online der Munich Re alles über Tornados & Wirbelstürme in Deutschland sowie über die Schäden, die sie verursachen. Jetzt lesen. © www.eswd.eu am 28.08.2015
Tornados in Deutschland seit 1980
Gesicherte Tornado.-Meldungen in Deutschlanbd seit 1980 aus der ESWD-Datenbank. Die Tornados von Bützow und Affing sind eingekreist. Mit Tornados der Stärke F3 wäre demnach nur alle zwei bis drei Jahjre zu rechnen, mit F4 sogar nur alle 30 Jahre. Als "unklassifiziert" werden all jene Tornados qualifiziert, bei denen es keine Schadeninformation gibt, die auf eine Mindestgeschwindigkeit schließen lässt.

Ausblick

Durch den Klimawandel nimmt die Atmosphäre mehr Wasserdampf auf. Er liefert den Treibstoff für schwere konvektive Stürme. Dennoch hat in den USA über die vergangenen Jahrzehnte die Zahl der Schwergewitter nicht zugenommen. Auch die Tornado-Statistik scheint stabil zu bleiben. Allerdings kann man beobachten, dass die Heftigkeit der Gewitterausbrüche, insbesondere der schweren tornadoträchtigen Gewitter in Form von Superzellen, ansteigt. Eine ähnliche Aussage lässt sich für Mitteleuropa statistisch noch nicht belegen. Es gibt jedoch Grund zur Annahme, dass auch hier klimawandelbedingt eher die Schwere als die Häufigkeit der Gewitter zunehmen könnte. Munich Re ist zu diesem Thema eine Kooperation mit dem European Severe Storm Laboratory (ESSL) eingegangen. Ziel ist es, die aktuelle und künftige Gefährdung durch Schwergewitter in Deutschland und Mitteleuropa besser zu verstehen.

Munich Re Experten
Jan Eichner
Jan Eichner
Senior Consultant and expert on natural hazards, Corporate Underwriting
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