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Ken Feinberg: Entschädigung von Katastrophenopfern statt Haftung
Ken Feinberg: Entschädigung von Katastrophenopfern statt Haftung
© cheapbooks / Shutterstock.com
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    Im Rahmen seines Besuchs bei Munich Re gab Ken Feinberg Einblick in seine dreißigjährige Erfahrung mit Ad-hoc-Entschädigungsprogrammen nach schweren Katastrophen. Feinberg war als Sonderbeauftragter ("Special Master") mit der Entschädigung der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 betraut und verwaltete nach der Deepwater-Horizon-Ölkatastrophe im Golf von Mexiko den Entschädigungsfonds von BP. Im Anschluss an die Veranstaltung sprach Feinberg mit Christian Fuhrmann, Head of Global Clients / Northamerica Casualty bei Munich Re.
    Kenneth Feinberg is best known for being the Special Master of the 9/11 Victim Compensation Fund and the Administrator of the Gulf Coast Claims Facility after the Deepwater Horizon incident. He has also been involved in a multitude of other compensation schemes, including Agent Orange, Dalkon shield and GM ignition claims. Ken Feinberg has a law firm in Washington DC, regularly teaches law at various law schools in the US and is the author of the books What is Life Worth?, published in 2005, and Who gets What?, published in 2012.

    Ken, Sie haben viele der umfangreichsten Entschädigungsprogramme in den USA organisiert. Wie gehen Sie vor, wenn Sie Beträge in dreistelliger Millionen- oder sogar Milliardenhöhe an Tausende von Opfern verteilen sollen?

    Im Laufe der Zeit habe ich dafür eine Art Checkliste entwickelt. Die erste Frage ist immer: Wie viel Geld steht zur Verfügung und wo kommt es her? Nach dem 11. September war der politische Druck, die Opfer großzügig zu entschädigen, so groß, dass die Regierung bereit war, so viel zu bezahlen wie nötig. Die Ressourcen waren unbegrenzt. Nach der Deepwater-Horizon-Katastrophe stellte BP mir zunächst 20 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und meinte: Wenn das nicht reicht, geben wir Ihnen mehr. Der nächste Punkt auf meiner Liste ist: Wer wird entschädigt? Wer ist anspruchsberechtigt? Die Frage lässt sich relativ leicht beantworten, wenn es um Todesopfer oder Personenschäden geht, wie beim 11. September. Wesentlich schwieriger sieht es bei finanziellen Schäden aus.

    Nach Deepwater Horizon wurden überwiegend Verdienstausfälle geltend gemacht. Hier mussten wir irgendwo eine Grenze ziehen. Dafür mussten geeignete Kriterien entwickelt werden. Je weiter der Anspruchsteller vom Ort der Katastrophe entfernt war, desto mehr Beweise musste er liefern. Denn es gab Entschädigungsforderungen nicht nur aus allen fünfzig US-Bundesstaaten, sondern auch aus fast ebenso vielen ausländischen Staaten, sogar aus Europa. Im Fall von Deepwater Horizon wurden über die Hälfte der Entschädigungsforderungen für Verdienstausfälle mangels ausreichender Beweise abgelehnt. Und schließlich muss man eine Methode finden, wie man die Entschädigungszahlung berechnet. Das ist bei einem finanziellen Schaden in der Regel nicht allzu schwierig.

    Übrigens fallen die Entschädigungsforderungen tendenziell niedriger aus, wenn man sich die Steuererklärung als Nachweis vorlegen lässt. Einen Schaden zu beziffern, wenn es sich um einen Todesfall, eine physische Verletzung, erlittene Schmerzen oder seelisches Leid handelt, ist schwieriger. Wenn es um Tausende von Opfern geht, kann man keine individuellen Lösungen finden. Man muss den Prozess vereinheitlichen. Ein Ad-hoc-Entschädigungsprogamm soll verhindern, dass Geschädigte klagen.

    Deshalb sollte man prüfen, wie hoch die Entschädigung für einen bestimmten Personenschaden durchschnittlich ausfällt, wenn dieser gerichtlich geltend gemacht wird, und mindestens genauso viel zahlen, eher etwas mehr. Latente Schäden sind noch schwieriger zu berechnen. Aber wenn man die Menschen vor die Wahl stellt, entweder eine sofortige Pauschalentschädigung auf der Grundlage eines Best Estimate zu erhalten oder später die Chance zu haben, einen möglicherweise höheren Schaden geltend zu machen, wird sich die große Mehrheit für die Pauschalzahlung entscheiden.

    Wenn all das geklärt ist, wie geht es dann weiter?

    Ganz wichtig ist es, den Opfern rechtliches Gehör zu gewähren, ihnen zuzuhören. Menschen, die ihre nächsten Angehörigen verloren haben oder selbst schwer verletzt wurden, wollen nicht einfach nur Geld. Sie wollen reden. Geben Sie ihnen die Chance dazu. Sie wollen, dass man ihnen zuhört. Also müssen Sie ihnen zuhören. Dabei muss man mit Emotionen umgehen können, mit einer Menge Emotionen. Nach dem 11. September habe ich 950 vertrauliche Anhörungen mit den Familien der Opfer durchgeführt. Bei diesen hatte ich eigentlich nicht die Rolle eines Juristen, eher war ich Psychologe oder Seelsorger. Sie dürfen eins nicht vergessen: Egal, wie viel Entschädigung Sie zahlen, die Opfer werden Ihnen niemals dankbar sein oder Ihre Arbeit anerkennen. Diese Menschen haben ihre nächsten Angehörigen verloren oder verheerende Verletzungen erlitten. Sie können ihnen zwar helfen, aber Sie können sie nicht glücklich machen.

    Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Voraussetzung für ein erfolgreiches Entschädigungsprogramm?

    Transparenz. Völlige Transparenz ist ein Muss, und gleichzeitig Ihr wichtigstes Argument. Massenprozesse auf Entschädigung in den USA verlaufen nicht sehr transparent. Wenn Sie wollen, dass die Menschen sich für Ihr Entschädigungsprogramm entscheiden, anstatt vor Gericht zu ziehen, müssen Sie ihnen beweisen, dass Ihr Programm fair, berechenbar, effizient und großzügig ist.

    Wie erreichen Sie diese Transparenz?

    Indem ich alle Beteiligten von Anfang an einbinde. Das fängt schon bei der Gestaltung des Programms an. Holen Sie sich Input von allen Seiten – von den Opfern, von Sachverständigen, aus der Öffentlichkeit. Hören Sie zu. Zeigen Sie den Beteiligten, dass Sie ernst nehmen, was sie zu sagen haben. Stellen Sie sicher, dass jeder versteht, wie das Programm funktioniert: Wer bekommt was, wann und wie.

    Sie sagten, Ad-hoc-Entschädigungsprogramme zielen darauf, Klagen zu vermeiden. Wie verhindern Sie, dass sich jemand die Entschädigung auszahlen lässt und trotzdem klagt?

    Zum einen durch sehr großzügige Entschädigungen, zum anderen dadurch, dass man sich eine umfassende Abfindungserklärung unterschreiben lässt. Wenn man einen Anspruchsteller vollständig entschädigt, hat er danach keinen Grund mehr, jemanden zu verklagen. Man darf ein solches Programm auch niemals über einen langen Zeitraum laufen lassen. Wenn Sie wollen, dass sich die Menschen freiwillig für Ihr Entschädigungsprogramm entscheiden, sollten Sie eine klare Frist setzen, bis wann Ansprüche geltend gemacht werden können. Die Anspruchsteller sind in der Regel zunächst skeptisch, wenn ein derartiges Programm angeboten wird, und melden sich erst in letzter Minute.

    Die Auszahlung enormer Summen an Tausende von Anspruchstellern innerhalb kurzer Zeit bringt gewisse Risiken mit sich - Stichwort „moral hazard“. Wie gravierend ist dieses Problem?

    Es ist weniger schwerwiegend als man denkt. Natürlich gibt es immer einige zweifelhafte Ansprüche oder auch echte Betrugsfälle. Beispielsweise haben wir 18.000 der 1,2 Millionen Ansprüche, die nach Deepwater Horizon gestellt wurden, als verdächtig eingestuft. Bei einer vernünftig ausgestalteten Bearbeitung der Ansprüche ist man aber in der Lage, einen Großteil dieser ungerechtfertigten Ansprüche zu identifizieren und abzuwehren. Wenn ein Entschädigungsprogramm gut funktioniert,  sind Betrug und Korruption  eine lästige Randerscheinung, kein gravierendes Problem.

    Welche Rolle spielen das Internet und Social Media bei Ad-hoc-Entschädigungsprogrammen?

    Wenn Sie erreichen wollen, dass möglichst viele Opfer einer Katastrophe Ihr Programm in Anspruch nehmen, können Sie moderne Medien nutzen, um darüber zu informieren. Social Media können dabei helfen, mit den Anspruchsberechtigten in Kontakt zu treten, das Programm transparent zu machen und Vertrauen aufzubauen. Natürlich werden dadurch auch Menschen auf das Programm aufmerksam, die betrügerische Ansprüche geltend machen. Wenn das Entschädigungsprogramm richtig aufgesetzt ist, kommen Sie damit aber zurecht.

    Sie haben gezeigt, dass Ad-hoc-Entschädigungsprogramme sehr erfolgreich sein können. Sollten Sie öfter eingesetzt werden?

    Ad-hoc-Programme werden immer die seltene Ausnahme sein. Und das ist gut so. Damit ein derartiges Programm erfolgreich ist, muss es sehr großzügig sein. Der Fonds für die Opfer des 11. September ist hierfür das beste Beispiel. Nach dem 11. September war ein solcher Fonds der richtige Schritt. Ein solches Entschädigungsprogramm wird es aber nie wieder geben. Die Anschläge vom 11. September waren beispiellos und erforderten eine großzügige Entschädigung. Obwohl die Steuerzahler für die Kosten aufkamen, gab es keine politische Opposition gegen den Fonds. Doch schon damals konnten die Opfer anderer Katastrophen nur schwer nachvollziehen, warum sie nicht in gleicher Weise entschädigt wurden. Schließlich erleiden jeden Tag unschuldige Menschen die schrecklichsten Schicksale. Da ist es kaum gerechtfertigt, eine Gruppe von Opfern gegenüber anderen zu bevorzugen, die ähnlich schwere Verluste erlitten haben.

    Wenn Sie der Versicherungswirtschaft abschließend einen Rat geben müssten, wie sähe der aus?

    Ich habe wenig Erfahrung mit Versicherern. Ich werde in der Regel sehr frühzeitig eingeschaltet, manchmal nur wenige Tage nach einer Katastrophe. Die Versicherer treten normalerweise erst in Erscheinung, wenn ich meine Arbeit bereits beendet habe. Rückblickend würde ich wahrscheinlich den folgenden Rat geben: Versuchen Sie, künftige Katastrophen noch besser vorherzusagen. Damit meine ich nicht nur Naturkatastrophen.

    Verbessern Sie Ihre Methoden, um Haftungsrisiken vorherzusehen. Verschaffen Sie sich möglichst gründliche Kenntnisse des US-Haftungs- und Prozessrechts. Es gibt bereits Versuche, auf der Grundlage neuer Daten Haftungsrisiken zu modellieren, um den nächsten großen "Toxic Tort", also Haftungsrisiken aufgrund toxischer Substanzen, oder auch Pharmarisiken vorherzusagen.  Zugegeben, diese Entwicklungen  stecken noch in den Kinderschuhen. Vermutlich wird man damit auch nie alle Arten von Haftungsrisiken abdecken können. Aber alles, was hilft zu verstehen, , wie sich aus Haftungsrisiken Massenklagen entwickeln, ist gut für die Versicherungswirtschaft.
    Experte
    Christian Fuhrmann
    Head of Divisional Unit Global Clients / North America and expert for P/C Insurance and Reinsurance General management

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