Herr Winter, viele Versicherungsunternehmen befinden sich in einem Transformationsprozess hin zu mehr digitalen und datengesteuerten Prozessen. Wie hat COVID-19 diesen Prozess Ihrer Meinung nach beeinflusst?
Die COVID-19-Krise hat zu einem enormen Sprung in der Digitalisierung im öffentlichen und privaten Sektor geführt. Viele Unternehmen mussten mobile Arbeitsmöglichkeiten für ihre Mitarbeiter schaffen und digitale Prozesse implementieren, um trotz „Social Distancing“ mit ihren Kunden in Kontakt zu bleiben. Dies gilt auch für viele Interaktionen zwischen Kunden und Versicherern: Die Krise hat mehr digitale Kontaktpunkte erzwungen, insbesondere mit Kunden, die vorher nicht primär digital aktiv waren. In dieser Hinsicht haben die Versicherer nicht nur begonnen, mehr, sondern auch diversifiziertere Daten in neuen Kundensegmenten zu sammeln.
Glauben Sie, dass die gesamte Branche bereit für diesen Wandel ist?
Insgesamt ist die digitale Landschaft in der Versicherungsbranche sehr heterogen. Auf der einen Seite beobachten wir Versicherer, die in den letzten Jahren einen starken digitalen Fußabdruck entwickelt haben. In Asien zum Beispiel sind einige Autoversicherer auf einem sehr guten Weg zu einer vollständigen Digitalisierung und Automatisierung des Schadenprozesses – basierend auf Künstlicher Intelligenz im Umgang mit Bildern, Texten und andern strukturierten Daten. Neben der Schadenregulierung können Kunden bereits heute Apps nutzen, um Tarifanpassungen nach einem Schadenfall zu simulieren, Parkplätze zu finden oder ihre Fahrzeuginspektionen zu organisieren. Viele andere Versicherungsunternehmen auf der ganzen Welt haben ihr digitales Angebot um Videoberatung, vereinfachtes Online-Underwriting und digitale Schadenbearbeitung erweitert. Auf der anderen Seite kämpfen noch immer einige Versicherungsunternehmen damit, erste Pilotprojekte für digitale Kontaktpunkte und datengesteuerte Entscheidungsfindung zu implementieren.
Basierend auf diesen Erkenntnissen, welche Trends erwarten Sie in Bezug auf Digitalisierung, Daten und KI?
Insgesamt erwarte ich weitere und schnellere Investitionen in die Digitalisierung der meisten Geschäftsmodelle in der Erstversicherung. Ich glaube, dass dies auch auf dem Kostendruck zur Automatisierung von Prozessen und auf der Nachfrage der Kunden nach mehr digitalen Touchpoints basieren wird. Und KI wird eine wichtige Rolle bei der Strukturierung von Daten aus Bild und Text spielen und damit die Grundlage für intelligentere und stärker automatisierte Entscheidungen im Underwriting und in der Schadenbearbeitung schaffen. Die Zunahme des maschinellen Lernens auf Grundlage vorhandener und neuer Daten wird Versicherer in die Lage versetzen, die Preisgestaltung und den Vertrieb durch die Vorhersage des CLV (Customer Lifetime Value) zu optimieren und dazu beitragen, die individuellen Anforderungen nach mehr nutzungsbasierten Produkten besser zu erfüllen.
Welche Art von Herausforderungen sehen Sie für Erstversicherer, die gerade erst mit dem digitalen Transformationsprozess beginnen?
Um das Ziel in naher Zukunft zu erreichen, werden viele Versicherungsunternehmen Teil eines größeren digitalen Ökosystems werden müssen. Ökosysteme und „smarte“ Partnerschaften werden für eine schnellere Umsetzung sorgen, ohne die Kontrolle über die Kosten zu verlieren. Hohe Investitionen in Compliance, leistungsfähigere IT-Infrastrukturen, KI- und Datenanalysefähigkeiten, Innovation-Scouting und Datenerfassung sind jedoch beträchtliche finanzielle Investitionen. Die Versicherer werden höchstwahrscheinlich nicht gleichzeitig in alles investieren können, vor allem nicht in wirtschaftlich unsicheren Zeiten.
Wie adressiert Munich Re diese Themen bei ihren Kunden?
Wir haben viele Projekte und Initiativen mit unseren Kunden gestartet, um ihnen zu helfen, Prozesse zu digitalisieren und virtuelle Kontaktpunkte zu schaffen, unabhängig davon wie weit sie mit der Transformationsprozess bereits fortgeschritten sind. Besonders hervorheben möchte ich unsere Aktivitäten rund um Datenanalyse und KI. Hier unterstützen wir unsere Kunden mit Analytics & KI-Dienstleistungen, wie Cross-Selling oder Betrugserkennung, die über eine Plattform / einen Marktplatz angeboten werden, mithilfe einer statistischen Auswertung großer und / oder spezieller Risiken - und mit individueller Beratung.
Könnten Sie die Analytics- und KI-Konzepte näher erläutern?
Wir unterstützen unsere Kunden aktiv bei der Datenanalyse, indem wir die Infrastruktur und den Talentpool von Munich Re zur Verfügung stellen, um handlungsrelevante Erkenntnisse zu generieren. Ein gutes Beispiel dafür ist unsere Analyseplattform, die dabei hilft, das Geschäft mit Kraftfahrzeugen und Eigenheimbesitzern zu steuern und zu überwachen. Eine beträchtliche Anzahl von Kunden nutzt diesen Service bereits, der sowohl unsere Analytik- und KI-Exzellenz als auch unser Risiko-Knowhow vereint. Dies ermöglicht fundiertere Entscheidungen und eine einfache und sichere IT-Integration ohne großen Aufwand. Zeitgleich schaffen wir KI-Kompetenz-Zentren, die spezialisierte Teams für KI-basiertes Datenmanagement und die Analyse von Texten und Bildern beschäftigen. Durch die Rationalisierung dieser Daten für unsere Kunden sind diese in der Lage, die Betriebskosten zu senken und gleichzeitig Prozesse zu digitalisieren. Obwohl die Textextraktion recht versicherungsspezifisch ist, lassen sich die "trainierten" Modelle dennoch leicht an neue Anwendungsfälle anpassen. Es gibt also definitiv echte Synergie-Effekte.
Wie unterstützt dies Beratung und Risikobewertung?
Unsere Global Consulting Unit bietet ihren Kunden schon immer individuelle und maßgeschneiderte Lösungen an. Dies ist das Ergebnis langjähriger Erfahrung in der Erstversicherung und einer massiven Investition in Mitarbeiter und Technologie, um versicherungsmathematisches Knowhow sicherzustellen. Zusätzlich arbeiten unsere globalen Inno-Scouting-Teams stets aktiv an der Erweiterung unseres Netzwerks. Dies hat dazu beigetragen, dass wir Teil eines größeren Ökosystems von externen Partnern, Start-ups und Insurtech-Unternehmen geworden sind und so unser gemeinsames Verständnis von Analytik exponentiell gewachsen ist. Es hat uns auch ein klares Verständnis für die Bedeutung der Digitalisierung der Industrie ermöglicht. Die Integration von Data Analytics in beispielsweise die Preisgestaltung ist absolut sinnvoll, um Kunden weltweit optimal zu unterstützen. Und es versteht sich von selbst, dass, wenn es um statistische / auswertende Beratung zu großen oder speziellen Risiken geht, unser Einsatz von KI und die Digitalisierungsbemühungen wesentlich zu einer besseren Datenerfassung geführt haben.
Ein Blick in die Zukunft: Wie werden Digitalisierung, Daten und KI darüber hinaus die Versicherungsindustrie verändern?
Mit fortschreitender Automatisierung, Digitalisierung und Individualisierung werden wir neue Risiken beobachten können, zum Beispiel das Risiko der KI selbst. Es wird interessant werden, eine Versicherung für ein solches neues Risiko zu modellieren. Aber auch der Datenschutz und die lokale Regulierung werden sich auswirken und könnten das Ökosystem rund um Datenverarbeitung verändern. Stellen Sie sich vor, jeder hätte in einer privaten Cloud die volle Kontrolle über alle seine Daten. Dies könnte bedingen, dass intelligente und "angelernte" Algorithmen von einem Datenpool zum nächsten wandern, während die Daten selbst an einem Ort verbleiben.
Wir haben bereits einige erste Schritte unternommen, um die Möglichkeiten innerhalb der Versicherungsbranche auszuloten, während Technologieunternehmen bereits massiv an Ökosystemen rund um Algorithmen arbeiten. Am interessantesten wird sein zu beobachten auf welche Weise die Versicherungsindustrie, Dienstleistungen und Lösungen in enger Verbindung mit den wertvollen Erkenntnissen und Trends aus der Datenanalyse generieren und anbieten wird und sie dabei zu begleiten.